Meine Heimat ist die Erde: die vielversprechende Utopie

Leonardo Boff                                      

Wir leben heute in dystopischen Zeiten, denen es an utopischer Inspiration fehlt. Die großen Utopien der Vergangenheit haben ihre Versprechen nicht eingelöst: die der Aufklärung, Bildung für alle; die des Kapitalismus, jeder kann reich werden; die des Sozialismus, Gleichheit für alle; die des Kommunismus, eine klassenlose Gesellschaft; die der Postmoderne, es gibt keine universellen Erzählungen, jeder wählt seine eigene. Tatsache ist, dass keine Gesellschaft, wie uns Anthropologen und Soziologen versichern, ohne eine Utopie lebt, d. h. eine starke Idee, einen inspirierenden Traum, der dem Leben der Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte einen Sinn gibt.

Der irische Schriftsteller Oscar Wilde sagte einmal: „Eine Weltkarte, die keine Utopie enthält, ist es nicht wert, betrachtet zu werden, denn sie ignoriert das einzige Gebiet, in dem die Menschheit immer andockt und dann zu einem noch besseren Land aufbricht.“

Aber der utopische Traum stirbt nie, denn er ist die Essenz des menschlichen Wesens, das Prinzip Hoffnung (Ernst Bloch), immer auf dem Weg zu sein. Er ist vollständig, aber unvollkommen, weil er immer danach strebt, sein Menschsein zu verbessern. Die Utopie von Pierre Teilhard de Chardin in den 1930er Jahren, der Einbruch der Noosphäre, in der Herz und Verstand der Menschheit glücklich zusammenfließen würden, ist sehr wahr. Auch die Utopie, die sich an der Basis verbreitet: „Die Seele hat keine Grenzen, kein Leben ist fremd“. Oder die Utopie, die sogar das Fernsehen verbreitet hat: „Meine Heimat ist die Erde“ – eine wahre Utopie.

Zwei tragfähige Utopien wurden vorgeschlagen, die der Erd-Charta (2000) mit ihrer Ethik der Sorge für alle Lebewesen und die von Papst Franziskus mit seiner integralen Ökologie, „Sorge um das Gemeinsame Haus“ (2015), in der er die Beziehung aller mit allen, „mit der Sonne und dem Mond, mit der Zeder und dem Sperling“ (Nr. 86) und der „universellen Geschwisterlichkeit“ zwischen den Menschen und mit allen Lebewesen in der Natur (Fratelli tutti 2015) bekräftigt, weil alle von Mutter Erde hervorgebracht wurden und denselben genetischen Grundcode haben.

Ich möchte die radikale Utopie von Robert Müller, 40 Jahre lang hoher UN-Beamter und erster Rektor der Universität des Friedens in Costa Rica, vorstellen, die uns zur biblischen Utopie eines „neuen Himmels und einer neuen Erde“ zurückführt. Er entwarf eine Neue Genesis (vgl. O nascimento de uma civilização global, Aquarius, São Paulo 1993 S.170-171):

„Und Gott sah, dass alle Nationen der Erde, Schwarze und Weiße, Arme und Reiche, Nord und Süd, Ost und West, alle Glaubensrichtungen, ihre Abgesandten zu einem großen kristallenen Gebäude am Ufer des Flusses der aufgehenden Sonne auf der Insel Manhattan schickten, um gemeinsam zu studieren, gemeinsam zu denken und gemeinsam für die Welt und alle ihre Völker zu sorgen. Und Gott sagte: „Das ist gut.“ Und das war der erste Tag des Neuen Zeitalters auf der Erde.

         Und Gott sah, dass die Soldaten des Friedens die Kämpfer der kriegführenden Nationen trennten, dass Differenzen durch Verhandlungen und Vernunft und nicht durch Waffen gelöst wurden, und dass die Führer der Nationen sich trafen, Ideen austauschten und ihre Herzen, ihren Verstand, ihre Seelen und ihre Kräfte zum Wohle der ganzen Menschheit vereinten.  Und Gott sagte: „Das ist gut“, und das war der zweite Tag auf dem Planeten des Friedens.

Und Gott sah, dass die Menschen die ganze Schöpfung liebten, die Sterne und die Sonne, den Tag und die Nacht, die Luft und die Ozeane, die Erde und die Gewässer, die Fische und die Vögel, die Blumen und die Pflanzen und alle ihre menschlichen Brüder und Schwestern. Und Gott sagte: „Das ist gut“, und das war der dritte Tag auf dem Planeten des Glücks.

Und Gott sah, dass die Menschen Hunger, Krankheit, Unwissenheit und Leid auf der ganzen Welt beseitigten, jedem Menschen ein menschenwürdiges, bewusstes und glückliches Leben ermöglichten und die Gier, die Macht und den Reichtum der Wenigen reduzierten. Und Gott sagte: „Das ist gut“, und das war der vierte Tag auf dem Planeten der Gerechtigkeit.

Und Gott sah, dass die Menschen in Harmonie mit ihrem Planeten und in Frieden mit anderen lebten, ihre Ressourcen weise verwalteten, Verschwendung vermieden, Exzesse eindämmten, Hass durch Liebe ersetzten, Gier durch Zufriedenheit, Arroganz durch Demut, Spaltung durch Zusammenarbeit und Misstrauen durch Verständnis. Und Gott sagte: „Das ist gut.“ Und das war der fünfte Tag des Goldenen Planeten.

Und Gott sah, dass die Nationen ihre Waffen, ihre Bomben, ihre Raketen, ihre Schiffe und Kampfflugzeuge zerstörten, ihre Stützpunkte deaktivierten und ihre Armeen demobilisierten und nur Friedensoffiziere behielten, um die Guten vor den Bösen und die Normalen vor den Verrückten zu schützen.         Und Gott sagte: „Das ist gut“. Und das war der sechste Tag auf dem Planeten der Vernunft.

Und Gott sah, dass die Menschen Gott und die menschliche Person als das Alpha und Omega wiederherstellten und Institutionen, Überzeugungen, Politik, Regierungen und alle menschlichen Gebilde zu einfachen Dienern Gottes und der Menschen reduzierten. Und Gott sah, wie sie als oberstes Gesetz annahmen: „Du sollst den Gott des Universums lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele, mit deinem ganzen Verstand und mit all deiner Kraft. Ihr sollt euren schönen und wunderbaren Planeten lieben und ihn mit unendlicher Sorgfalt behandeln. Ihr sollt eure menschlichen Brüder und Schwestern so lieben, wie ihr euch selbst liebt. Es gibt keine größeren Gebote als diese. Und Gott sagte: „Das ist gut“, und das war der siebte Tag des Planeten Gottes.

Wenn die Tür zur Hölle in Dante Alighieris Göttlicher Komödie lautete: „Gebt alle Hoffnung auf, die ihr eintretet“, so wird die Tür zur Neuen Genesis der planetarischen Welt in jeder Sprache der Erde lauten: „Gebt niemals die Hoffnung auf, die ihr eintretet“.

         Ich bin mir nicht sicher, ob der Traum von Robart Muller mit der Art von Menschen, die wir geworden sind, derzeit realisierbar ist. Aber durch die Neuerfindung des Menschen – das ist unsere Herausforderung, wenn wir überleben wollen – könnte dieser Traum Wirklichkeit werden.

Denn wir werden nicht müde, davon zu träumen, dass wir eines Tages diese vielversprechende, realisierbare Utopie verwirklichen können: Meine Heimat ist die Erde.

Leonardo Boff   Autor von: Universale Geschwisterlichkeit: Gesellschaftsordnung der Zukunft

Vier-Türme-Verlag, 2022

Übersetzung von Bettina Goldharnack

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