Leonardo Boff
Auf der COP 30 in Belém rückte der Amazonas aufgrund seiner Bedeutung für das Klimagleichgewicht und die Verlangsamung der globalen Erwärmung in den Mittelpunkt. Über den Amazonas wurden alle möglichen Meinungen geäußert. Schauen wir uns einmal an, was er ist und was er nicht ist.
Zunächst einmal muss gesagt werden, dass der Amazonas das größte Wasser- und Gen-Erbe der Erde beherbergt. Von einem unserer besten Wissenschaftler, Enéas Salati, wissen wir: „Auf wenigen Hektar des Amazonas-Regenwaldes gibt es mehr Pflanzen- und Insektenarten als in der gesamten Flora und Fauna Europas.“ Dieser üppige Wald ist jedoch äußerst empfindlich, da er auf einem der kargsten und ausgelaugtesten Böden der Erde wächst. Wenn wir die Abholzung nicht eindämmen, könnte sich der Amazonas in wenigen Jahren in eine riesige Savanne verwandeln. Darauf weist uns der renommierte Experte Carlos Nobre immer wieder hin.
Es handelt sich nicht um unberührtes Neuland. Dutzende indigene Völker, die dort lebten und leben, haben sich als echte Umweltschützer betätigt. Ein großer Teil des gesamten Amazonas-Regenwaldes, insbesondere der Auen, wurde von den Indigenen bewirtschaftet, die „Ressourceninseln” förderten und günstige Bedingungen für die Entwicklung nützlicher Pflanzenarten wie Babassu, Palmen, Bambus, Kastanienwälder und Früchte aller Art schufen, die für sich selbst und für diejenigen, die zufällig dort vorbeikamen, gepflanzt oder gepflegt wurden. Die berühmten „schwarzen Böden der Indianer” sind ein Hinweis auf diese Bewirtschaftung.
Die Vorstellung, dass der Indio ein genuin natürliches Wesen sei, ist eine falsche Ökologisierung, die aus der Vorstellung der Stadtbewohner resultiert, die von der Künstlichkeit des Lebens ermüdet sind. Er ist ein kulturelles Wesen. Wie der Anthropologe Viveiros de Castro bestätigt: „Der Amazonas, den wir heute sehen, ist das Ergebnis jahrhundertelanger sozialer Interventionen, ebenso wie die dort lebenden Gesellschaften das Ergebnis jahrhundertelanger Koexistenz mit dem Amazonas sind”. Dasselbe sagt er in seinem lehrreichen Buch E.E.Moraes „Wenn Amazonas in den Pazifik mündete“Quando o Amazonas corria para o Pacífico” (Vozes 2007): „Es gibt nur noch wenig unberührte und vom Menschen unveränderte Natur im Amazonasgebiet”. 1.100 Jahre lang beherrschten die Tupi-Guarani ein riesiges Gebiet, das sich von den Ausläufern der Anden am Amazonas bis zu den Becken des Paraguay und Paraná erstreckte.Ein wahrer Reich.
Die Beziehungen zwischen den Indigenen und dem Wald sind nicht natürlicher, sondern kultureller Natur und bestehen aus einem komplexen Geflecht von Wechselbeziehungen. Sie empfinden und erleben die Natur als Teil ihrer Gesellschaft und Kultur, als Erweiterung ihres persönlichen und sozialen Körpers. Für sie ist die Natur ein lebendiges Wesen voller Absichten. Sie ist nicht wie für uns moderne Menschen etwas Objektives, Stummes und Geistloses. Die Natur spricht, und die Indigenen verstehen ihre Stimme und ihre Botschaft. Deshalb lauschen sie stets der Natur und passen sich ihr in einem komplexen Spiel von Wechselbeziehungen an. Sie haben ein subtiles sozioökologisches Gleichgewicht und eine dynamische Integration gefunden, obwohl es auch Kriege und regelrechte Ausrottungen gab, wie die der Sambaquieiros und anderer Stämme.
Aber es gibt wichtige Lehren, die wir angesichts der aktuellen Umweltbedrohungen von ihnen lernen müssen. Es ist wichtig, die Erde nicht als etwas Unbelebtes mit unbegrenzten Ressourcen zu verstehen, das das kapitalistische Projekt des unbegrenzten Wachstums unterstützt. Sie ist in ihren natürlichen Gütern und Dienstleistungen begrenzt. Als etwas Lebendiges muss die Mutter der Indianer in ihrer Integrität respektiert werden. Wenn ein Baum gefällt wird, wird ein Entschuldigungsritual durchgeführt, um das Bündnis der Geschwisterlichkeit und der gegenseitigen Zugehörigkeit wiederherzustellen.
Wir brauchen eine symphonische Beziehung zur Lebensgemeinschaft, denn wie sich gezeigt hat, hat Gaia ihre Belastungsgrenze bereits überschritten. Wir brauchen mehr als eineinhalb Erden, um den menschlichen Konsum und den krankhaften Konsum der wohlhabenden Klassen zu befriedigen.
Allerdings müssen wir zwei Mythen widerlegen. Der erste lautet: Der Amazonas als die Lunge der Welt. Experten behaupten, dass sich der Amazonas-Regenwald in einem Klimaxzustand befindet. Das bedeutet, dass er sich in einem optimalen Lebenszustand befindet, in einem dynamischen Gleichgewicht, in dem alles genutzt wird und sich daher alles im Gleichgewicht befindet. So wird die von den Pflanzen durch die Wechselwirkungen der Nahrungskette gebundene Energie vollständig genutzt. Der tagsüber durch die Photosynthese der Blätter freigesetzte Sauerstoff wird nachts von den Pflanzen selbst und den anderen Lebewesen verbraucht. Deshalb ist der Amazonas nicht die Lunge der Welt.
Aber sie fungiert als großer Filter für Kohlendioxid. Im Prozess der Photosynthese wird eine große Menge Kohlenstoff absorbiert. Nun ist Kohlenstoff der Hauptverursacher des Treibhauseffekts, der die Erde erwärmt. Würde der Amazonas eines Tages vollständig abgeholzt, würden jährlich etwa 50 Milliarden Tonnen Kohlenstoff in die Atmosphäre gelangen. Es käme zu einem Massensterben von Lebewesen.
Der zweite Mythos: Der Amazonas als Kornkammer der Welt. So dachten die ersten Entdecker wie von Humboldt und Bonpland und die brasilianischen Planer zur Zeit der Militärherrschaft (1964-1983). Das ist nicht der Fall. Untersuchungen haben gezeigt, dass „der Wald von sich selbst lebt” und zum großen Teil „für sich selbst” (vgl. Baum, V., Das Ökosystem der tropischen Regenwälder, 1986, 39). Er ist üppig, aber auf humusarmem Boden. Das scheint ein Paradoxon zu sein. Der große Amazonas-Experte Harald Sioli hat es gut erklärt: „Der Wald wächst tatsächlich auf dem Boden und nicht aus dem Boden” (A Amazônia 1985, 60). Und er erklärt es so: Der Boden ist nur die physische Stütze eines komplizierten Wurzelgeflechts. Die Pflanzen verflechten sich mit ihren Wurzeln und stützen sich gegenseitig an der Basis. Es entsteht ein riesiges, ausgewogenes und rhythmisches Gleichgewicht. Der ganze Wald bewegt sich und tanzt. Wenn daher ein Baum gefällt wird, reißt er mehrere andere mit sich.
Der Wald bewahrt seinen üppigen Charakter, weil es einen geschlossenen Nährstoffkreislauf gibt. Nicht der Boden nährt die Bäume, sondern die Bäume nähren den Boden. Das Wasser aus den Blättern und Stämmen wäscht und transportiert die Exkremente der baumbewohnenden Tiere und größeren Tierarten sowie der unzähligen Insekten, die in den Baumkronen leben. Über die Wurzeln gelangt die Nahrung zu den Pflanzen und sorgt so für die überwältigende Üppigkeit des Amazonas-Regenwaldes. Es handelt sich um ein geschlossenes System mit einem komplexen und empfindlichen Gleichgewicht. Jede noch so kleine Abweichung kann katastrophale Folgen haben.
Der Humus ist in der Regel nicht dicker als 30 bis 40 Zentimeter. Bei starken Regenfällen wird er weggespült. Nach kurzer Zeit kommt der Sand zum Vorschein. Der Amazonas ohne Wald könnte sich in eine riesige Savanne verwandeln. Deshalb kann der Amazonas niemals die Kornkammer der Welt sein. Aber er wird weiterhin der Tempel der größten Artenvielfalt bleiben.
Ich schließe mit einem Zitat von Euclides da Cunha, einem klassischen Schriftsteller der brasilianischen Literatur und einem der ersten Analysten der Realität des Amazonasgebiets zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der sagte: „Die menschliche Intelligenz würde die Last der gewaltigen Realität des Amazonasgebiets nicht ertragen können. Sie muss mit ihr wachsen, sich an sie anpassen, um sie zu beherrschen” (Um paraíso perdido: Vozes l976,15). Chico Mendes, Märtyrer des ökologischen Kampfes im Amazonasgebiet und typischer Vertreter der Waldvölker, sah mit äußerster Klarheit diese Notwendigkeit, dass der Mensch mit dem Wald wachsen muss, indem er behauptete, dass nur eine Technologie, die sich den Rhythmen des Amazonasgebiets unterwirft, und eine Entwicklung, die sich am Abbau der unermesslichen Waldreichtümer orientiert, dieses ökologische Erbe der Menschheit bewahren können. Alles andere ist unangemessen und bedrohlich.
Leonardo Boff schrieb Schrei der Erde-Schrei der Armen, Patmos 2002; mit Mark Hathaway, Befreite Schöpfung: Kosmologie, Ökologie,Spiritualität,Butzon&Bercker 2016.