LeonardoBoff
Es lässt sich nicht leugnen, dass wir uns im Zentrum einer gewaltigen globalen Krise befinden. Niemand weiß, wohin wir steuern. Es ist ratsam, Historiker zu konsultieren, die in der Regel eine ganzheitliche Sicht und ein feines Gespür für die großen Trends der Geschichte besitzen. Ich zitiere einen meiner inspirierendsten Autoren: Eric Hobsbawn in seinem bekannten Übersichtswerk „The Age of Extremes“ (1994). Am Ende seiner Überlegungen kommt er zu folgendem Schluss:
„Die Zukunft kann keine Fortsetzung der Vergangenheit sein … Unsere Welt ist von Explosion und Implosion bedroht … Wir wissen nicht, wohin wir gehen. Eines ist jedoch klar: Wenn die Menschheit eine lebenswerte Zukunft will, kann sie dies nicht durch die Verlängerung der Vergangenheit oder der Gegenwart erreichen. Wenn wir versuchen, das dritte Jahrtausend auf diesem Fundament aufzubauen, werden wir scheitern. Und der Preis des Scheiterns, d. h. die Alternative zum gesellschaftlichen Wandel, ist Dunkelheit.“ (S. 562) Dunkelheit könnte das Ende der Spezies Homo bedeuten. Max Weber sagte etwas Ähnliches in seiner letzten öffentlichen Konferenz, in der er (endlich!) den Kapitalismus als in ein „Stahlhartes Gehäuse“ eingeschlossen bezeichnete, das er selbst nicht durchbrechen kann. Daher kann es uns in eine große Katastrophe führen: „Was uns erwartet, ist nicht die Blüte des Herbstes, sondern eine Polarnacht, eisig, dunkel und mühsam“ (Vgl. M. Löwy, La jaula de hierro: Max Weber y el marxismo weberiano, Mexiko 2017). Und schließlich warnt Papst Franziskus selbst in der Enzyklika Fratelli tutti (2020): „Wir sitzen im selben Boot, entweder werden wir alle gerettet oder niemand wird gerettet“ (Nr. 32).
Im ökologischen Bereich und unter namhaften Analysten der globalen Geopolitik ist die Überzeugung weit verbreitet: Im kapitalistischen System, das das unbegrenzte (ungerechtfertigte) Streben nach finanziellem Profit in den Vordergrund stellt und zwei Ungerechtigkeiten schafft – eine soziale (die unermessliche Armut verursacht) und eine ökologische (die Zerstörung der Ökosysteme), gibt es keine Lösung für die aktuelle Krise. Einstein wird der Satz zugeschrieben: „Das Denken, das die Krise verursacht hat, kann nicht dasselbe sein, das uns aus ihr herausführen wird; wir müssen uns ändern.“
Da die vielversprechenden Zukunftsvisionen der Vergangenheit über die Zukunft der Menschheit gescheitert sind, können sie uns keine neuen Wege aufzeigen, außer vielleicht den planetarischen Ökosozialismus, der nichts mit dem einst existierenden und gescheiterten Sozialismus zu tun hat. Oder die Rückkehr zur Lebensweise der Ureinwohner, deren überliefertes Wissen oder das „bien vivir y convivir” der Andenbewohner uns noch eine Zukunft auf diesem Planeten sichern würden. Aber es scheint mir, dass wir uns so sehr in unserer systemischen Blase verstrickt haben, dass dieser Vorschlag, so reizvoll er auch sein mag, global gesehen undurchführbar ist.
Wenn wir am Ende der gangbaren Wege angelangt sind und nur noch den Horizont vor Augen haben, scheint es mir, dass uns nur noch bleibt, uns für uns selbst zu entscheiden und noch nicht ausprobierte Möglichkeiten zu erkunden. Wir sind von Natur aus ein unendliches Projekt und ein Knotenpunkt von Beziehungen in alle Richtungen. Wir müssen in uns selbst eintauchen und unsere Wurzeln in der Quelle tränken, die immer in uns in Form von unerschütterlicher Hoffnung, großen Träumen, realisierbaren Mythen und innovativen Projekten für einen anderen Weg vor uns sprudelt.
Wenn ich den Menschen als strukturierende Referenz nehme, denke ich nicht an eine Anthropologie der Anthropologen und Anthropologinnen oder an die immer bereichernden Wissenszweige über den Menschen. Ich denke an den Menschen in seiner unergründlichen Radikalität, die sich um den Bereich des Geheimnisses rankt, das sich, je näher wir ihm kommen, umso weiter entfernt und tiefer präsentiert. Und es bleibt ein Geheimnis in jedem Wissen. Das war die Erkenntnis, die der Heilige Augustinus über sich selbst gewann: factum sum mysterium mihi: „Ich bin mir selbst ein Geheimnis geworden”. Dieses Geheimnis ist Ausdruck eines größeren Geheimnisses, nämlich des Universums selbst, das sich noch in der Entstehung und Expansion befindet. Daher ist der Mensch als Geheimnis niemals von diesem Prozess, dessen Teil er ist, getrennt, was über eine rein individualistische Sichtweise des Menschen hinausgeht. Es ist wichtig, niemals zu vergessen, dass er ein Wesen mit unbegrenzten Beziehungen ist, sogar mit dem Unendlichen. Lassen Sie uns einige Daten aufzählen, die zu unserem Wesen gehören und auf deren Grundlage wir neue Zukunftsvisionen entwickeln können.
Zunächst ist es wichtig, den Menschen als intreligente und gefülvole Erde zu verstehen, die in einem Moment ihrer Komplexität zu fühlen, zu denken, zu lieben, zu pflegen und zu verehren begann. So brach der Mensch, Mann und Frau, in den kosmogenischen Prozess ein. Nicht ohne Grund wird er Homo oder Adam genannt, was beides bedeutet: „aus Erde gemacht“ oder fruchtbares, bebaubares Land.
Im Mittelpunkt des menschlichen Wesens steht die Liebe, die, wie F. Maturana und J. Watson gezeigt haben, seine biologische Grundlage bildet. Watson sagt in seinem berühmten Buch DNA: The Secret of Human Life (2005): „Liebe lässt uns füreinander sorgen; es ist die Liebe, die unser Überleben und unseren Erfolg auf diesem Planeten ermöglicht hat; dieser Impuls, so glaube ich, wird unsere Zukunft sichern; ich bin sicher, dass die Liebe in unserer DNA verankert ist“ (S. 414). Es wird keine menschliche Transformation oder Revolution geben, die nicht von Liebe durchdrungen ist.
Zusammen mit der Liebe entsteht die Fürsorge, die seit langem als Wesen des Menschen verstanden wird. Da sie kein spezielles Organ hat, ist es die Fürsorge für sich selbst, für andere und für die Natur, die uns das Leben sichert.
Es war die Solidarität/Kooperation des gemeinsamen Essens, die uns einst den Sprung vom Tierischen zum Menschlichen ermöglichte. Was gestern wahr war, ist auch heute noch wahr und wesentlich, wenn auch rar. Als relationales Wesen sind Solidarität und Kooperation die Grundlage jeglichen Zusammenlebens.
Neben der Intelligenz des neokortikalen Gehirns gibt es die Emotionen des limbischen Gehirns, das vor Millionen von Jahren entstand und der Sitz von Liebe, Empathie, Mitgefühl, Ethik und der gesamten Welt der Exzellenz ist. Wir sind fühlende Wesen. Ohne eine emotionale Bindung zwischen uns Menschen und der Natur verfällt und verkümmert alles.
Tief in uns lebt die natürliche Spiritualität, wie die new science behauptet,die ebenso anerkannt wird wie Intelligenz und Emotionen. Sie ist älter als jede Religion, denn sie ist die Quelle, aus der alle schöpfen, jeder auf seine Weise. Spiritualität ist unser Wesen und drückt sich in bedingungsloser Liebe, Solidarität, Transparenz und allem aus, was uns menschlicher, beziehungsfähiger und offener macht.
Spiritualität lässt uns begreifen, dass unter allen Lebewesen eine kraftvolle und liebevolle Energie existiert, die Kosmologen den Abgrund nennen und die alles Existierende hervorbringt und erhält. Der Mensch kann sich dieser tiefen Energie öffnen, mit ihr kommunizieren und Staunen und Ehrfurcht vor der Erhabenheit des Universums und seines Schöpfers empfinden.
Realistisch betrachtet gehen mit solchen Werten auch ihre Gegensätze einher – wir sind Sapiens und Demens –, die nicht unterdrückt werden können, sondern in Grenzen gehalten werden müssen. Indem wir unsere Wurzeln in dieser ursprünglichen Quelle nähren, können wir eine andere Zukunft gestalten können in der Liebe, Solidarität und BienVivir die Grundlage bilden.
Leonardo Boff Ökotheologe. Philosof un Schriststeller.
Übersetzung: Bettina Gold-Hartnack