Die Rettung des Verdrängten: tiefes Bewusstsein.     

         Leonardo Boff

Zweifellos ist die Krise des ethischen und moralischen Gewissens unter den vielen Krisen, die unsere heutige Zivilisation plagen, eine der schwerwiegendsten. Manche Analysten sehen in der Verdrängung der Ethik eine der Hauptursachen für die gegenwärtigen Sackgassen, die Verzweiflung und die quälende Frage: Wenn wir den aktuellen Kurs weiterverfolgen, der das ethische Gewissen und damit das Gefühl der Mitverantwortung für „eine globale Schicksalsgemeinschaft der gesamten Menschheit“ – um einen oft so treffenden Ausdruck des chinesischen Präsidenten Xi Jingping zu verwenden – unterdrückt, könnten wir durch unsere eigene Schuld in eine sehr ernste Situation geraten, möglicherweise sogar in das Ende unserer Existenz auf diesem Planeten.

Wir haben nicht die Absicht, diesen Gedankengang mit all seiner Plausibilität zu vertiefen. Unser Ziel ist einfacher: In Zeiten großer Ratlosigkeit, der Erosion hoffnungsvoller Utopien und der Ungewissheit über unser Schicksal ist es dringend erforderlich, zu den minimalen Daten zurückzukehren, aus denen ethisches Bewusstsein erwächst, und sie für die heutige Zeit neu zu formulieren.

Ich greife auf zwei griechische Konzepte zurück, denn gerade in Griechenland, inmitten einer großen Krise des Übergangs von einer mythischen zu einer rationalen Weltsicht, entstanden mit großen Philosophen wie Platon und Aristoteles sowie Dramatikern wie Sophokles, Euripides und Aischylos Philosophie und ethisches Denken, die bis heute gültig sind. Die Kategorien sind griechisch, berühren aber einen universellen Wert: den „Dämon“ und das „Ethos“.

Es sollte klargestellt werden, dass „Dämon“ nichts mit dem Teufel zu tun hat. Im Gegenteil, es ist der gute und schützende Engel. Für die klassischen Griechen ist „Dämon“ gleichbedeutend mit dem tiefen und inneren Gewissen (Syneidesis), jener Stimme, die niemals verstummt, wie ein Richter, der uns zum Guten aufruft und uns für das Böse, das wir tun, ein schlechtes Gewissen macht. Es gehört ebenso zur menschlichen Natur wie Intelligenz und Wille.

Sokrates, der sich stets davon leiten ließ, nannte es eine „prophetische Stimme in mir, die von einer höheren Macht kommt“ oder auch ein „Zeichen Gottes“. Später betrachtete der große Denker Seneca das innere Gewissen als den Sitz Gottes (prope est a te Deus, tecum est, intus est). Philo von Alexandria, ebenfalls ein großer Philosoph, sah im Gewissen die Gegenwart des Göttlichen in der Seele.

Tatsächlich ist das „Dämon“-Gewissen jene innere Stimme, die uns stets begleitet. Wir können sie nicht zum Schweigen bringen. Der Verbrecher oder der Korrupte – und davon gibt es viele unter uns – kann fliehen, sich vor der Gerechtigkeit verstecken, doch er wird stets vom inneren Richter angetrieben, der ihn für sein Fehlverhalten verurteilt und ihn nicht in Ruhe lässt. Oder jenes lebendige und tiefe Gefühl, das unsere großzügige Geste gegenüber dem Hungernden auf der Straße begrüßt. Wir alle tragen das „Dämon“-Gewissen in uns, einfach weil wir Menschen mit Geist, Subjektivität (unserem tiefsten Selbst) und freiem Willen sind, Männer und Frauen, die fähig sind, abscheuliche Dinge (selbst die verborgensten) oder ehrenhafte Dinge zu tun, die uns zufriedenstellen.

Ethos“ ist ein weiterer griechischer Begriff, von dem sich das Wort Ethik ableitet. Ethos bezeichnet die menschliche Behausung, nicht nur das materielle Gebäude. Die Behausung muss existenziell als der Raum verstanden werden, in dem wir arbeiten, der uns schützt, in dem wir leben und koexistieren, der alle Räume – Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche und Speisekammer – verteilt.

Jedes Wohn-Ethos muss eine positive Ausstrahlung haben, die uns das Gefühl gibt, zu Hause zu sein, besonders wenn wir von der Arbeit oder einer Reise zurückkehren. Dazu gehört die heilige Ecke (der Ort der Göttin Hestia, der Beschützerin des Hauses), wo wir Fotos und schöne Erinnerungen aufbewahren, die brennende Kerze oder die Heiligen unserer Verehrung. Zum Wohn-Ethos gehört auch die Fürsorge für unsere Nachbarn und ein gutes Verhältnis zu ihnen.

Heraklit, der brillante vorsokratische Philosoph (500 v. Chr.), kombinierte die beiden Wörter in Aphorismus 119: „Ethos ist der Dämon des Menschen“; mit anderen Worten: „Das Zuhause ist der Schutzengel des Menschen.“ Diese Formulierung verbirgt den Schlüssel zu einer umfassenden ethischen Konstruktion in einfachen und praktischen Begriffen, gültig auch für unsere dunklen Zeiten.

Die Treue zu diesem guten Engel ermöglicht uns ein gutes Leben zu Hause, individuell, in der Stadt, auf dem Land und auf dem Planeten Erde, unserem gemeinsamen Zuhause. Alles, was wir für ein gutes Zusammenleben (Glück) tun, ist ethisch und gut, das Gegenteil ist unethisch und schlecht.

Es gibt jedoch eine Art Tragödie in unserer Geschichte: Der „Dämon“ wurde praktisch verdrängt und vergessen. An seine Stelle traten antike Philosophen, die als christliche Moral oder Kant und andere bezeichnet werden, und entwickelten ethische Systeme mit moralischen Prinzipien und Normen, die oft als für alle gültig angesehen werden, ohne Rücksicht auf die Einzigartigkeit jeder Kultur und den Wandel der Zeit. Doch ungeachtet dieser Veränderungen hört die Stimme des guten Engels nie auf zu sprechen und sich bemerkbar zu machen, ungeachtet unseres Willens, selbst wenn sie mit den tausend anderen Stimmen vermischt wird, die in der Gesellschaft zu hören sind. Wenn wir eine dauerhafte ethische Revolution wollen, müssen wir das „Dämon“-Gewissen befreien, das von der Asche unseres Egoismus, Konsumismus und des Geistes der Verleumdung und Brutalität in persönlichen und sozialen Beziehungen bedeckt ist. Um unser unmenschliches Paradigma zugunsten eines neuen, befreienden Paradigmas zu überwinden, müssen wir wieder auf den „Dämon“ hören und das „Ethos“ ernst nehmen, nicht nur als unsere persönliche, sondern auch als unsere planetarische Heimat. Kurz gesagt: Es ist ethischer gesunder Menschenverstand. Er wird uns Vorschläge machen, wie wir das Haus, das die Stadt, den Staat und das gemeinsame Haus des Planeten darstellt, ordnen können. Wir haben keinen anderen Ausweg.

Das Hören auf den „Dämon“ und die Pflege des „Ethos“, das jeden Menschen universell betrifft, können einen allgemeinen Frieden bringen und eine Haltung des Respekts gegenüber der Natur und eine Ethik der Sorge um unser gemeinsames Zuhause fördern. Das kann uns retten. Dann kann eine allgemeine Versöhnung zwischen Mensch und Natur entstehen.

Leonardo BoffAutor von: „Die Suche nach dem rechten Maß: Wie der Planet Erde wieder ins Gleichgewicht kommt.“ LIT Verlag, 2023.

Übersetzt von Bettina Goldhartnack

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