Leonardo Boff
Derzeit erleben wir einen erbitterten Wettstreit zwischen einer unipolaren Weltanschauung, die mit aller Härte durchgesetzt wird, mit Handels- und Hybridkriegen seitens der Vereinigten Staaten unter Donald Trump und der Europäischen Union, und einer multipolaren Weltanschauung, die von den beiden Großmächten Russland und China sowie einem Großteil der Länder des Globalen Südens gefordert wird.
Was sich hinter diesem Streit verbirgt, ist unter anderem die immense Arroganz der USA und der europäischen Länder. Diese Arroganz ist die berühmte Hybris der Griechen, also der Verlust des Augenmaßes, die Behauptung extremer Selbstherrlichkeit, die übertriebene Überhöhung ihrer eigenen Qualitäten und die Verachtung aller, die nicht so sind wie sie oder sich ihnen unterwerfen. Dies zeigt sich darin, dass sie sich für die Besten der Welt halten, dass sie die beste Regierungsform, die Demokratie, haben, dass sie die Menschenrechte eingeführt haben, die beste Technologie, die mächtigste Wirtschaft, die zerstörerischste Militärmacht, die sich jetzt wieder aufrüstet, die offenbarten Heilswahrheiten, das Christentum. Nach Ansicht der Griechen wurde die Hybris von den Göttern bestraft. Und wie sieht es heute aus?
Diese Arroganz führte weltweit zu Konflikten und Kriegen gegen alle anderen, angefangen bei der gewaltsamen Kolonialisierung der Welt durch Europa im 16. Jahrhundert bis hin zu den großen Kriegen des 20. Jahrhunderts. Zu Recht stellte Samuel P. Huntington in seinem umstrittenen Buch Der Kampf der Kulturen und die Neugestaltung der Weltordnung (Objetiva 1997) fest: „Es ist wichtig zu erkennen, dass die Einmischung des Westens in die Angelegenheiten anderer Zivilisationen wahrscheinlich die gefährlichste Quelle für Instabilität und einen möglichen globalen Konflikt in einer multikulturellen Welt darstellt” (S. 397). Erwähnenswert ist auch der Historiker Arnold Toynbee, der in seinem zwölfbändigen Werk A Study of History die Entstehung, das Wachstum und den Untergang von Zivilisationen untersucht und dabei der Arroganz als Anzeichen für den Niedergang ganzer Zivilisationen eine zentrale Bedeutung beimisst.
Kürzlich erklärte der bekannte Ökonom und Ökologe Jeffrey Sachs von der Columbia University gegenüber einem brasilianischen Journalisten (Leonardo Sobreira: Brasil 247 vom 6.9.25): „Die USA litten unter der Illusion, dass sie die Welt alleine anführen würden. Europa leidet unter derselben Arroganz… Nicht nur sind die USA allein, sondern sie haben auch nicht mehr das Sagen. Wir beobachten das Ende eines langen historischen Prozesses. Und diese Arroganz gibt es nicht nur in den USA, sondern auch in Europa… Die Mentalität ist von anhaltender Arroganz geprägt.”
Trump sieht sich selbst als „Kaiser der Welt“ (Lula) und tut, was ihm gefällt. Er zerstört traditionelle demokratische Gewohnheiten in den Vereinigten Staaten und hat mit seinem Handelskrieg (der einen echten, endgültigen Krieg ankündigt) fast die ganze Welt vor den Kopf gestoßen, selbst seine treuesten Verbündeten wie die Europäer und Südkoreaner. Arrogant verhandelt und diskutiert er nicht, sondern setzt seine Politik einfach durch, wie er es gegenüber Brasilien getan hat.
Fakt ist, wie die besten Analysten der globalen Geopolitik feststellen, dass die Ära der amerikanischen Dominanz rapide zu Ende geht. Schlimmer noch: Diese Tatsache zeigt sich in der Europäischen Union, die sich schämen sollte, gegen ihre gesamte zivilisatorische und humanistische Tradition zu handeln, indem sie den unerbittlichen Krieg unterstützt, den Netanjahus Israel gegen den Gazastreifen führt. Tausende sind tot, und Dutzende unschuldiger Kinder werden in einem regelrechten Völkermord unter freiem Himmel getötet. Die Europäer werden an den Rand gedrängt, weil Trump den beschleunigten Erosionsprozess dieser alternden und arroganten Zivilisation erkennt.
Die aufstrebende Macht, die wahrscheinlich die nahe Zukunft bestimmen wird, ist China mit einem keineswegs arroganten, sondern vernünftigen Vorschlag für eine Welt mit einem gemeinsamen Schicksal, die die Ordnung der Vereinten Nationen respektiert und auf Handelsöffnung und Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder basiert.
In zwei Büchern habe ich mich mit diesem Thema der Arroganz befasst, das unter dem allgemeineren Begriff „Mangel an Augenmaß” zusammengefasst wird, einem Wert, der in allen uns bekannten Ethiken der Zivilisationen vorhanden ist. Maßlosigkeit und die Abkehr vom Augenmaß sind der Auslöser, der den Verfallsprozess einer Kultur, eines sozialen Projekts oder eines persönlichen Verhaltens in Gang setzt.
Was in der Welt vorherrscht, nennen wir es beim Namen, ist das System des Kapitals – oder, wie manche es lieber nennen -, die Marktwirtschaft (die fast vollständig finanzialisiert ist), einen völligen Mangel an Maß zeigt, wie es die arroganten Big Techs exemplarisch zeigen, von denen einer bereits arrogant von einer persönlichen Anhäufung von einer Billion Dollar träumt.
Auf diesem Weg der grenzenlosen Arroganz, verbunden mit einer abgrundtiefen Unmenschlichkeit und einem völligen Mangel an Sensibilität gegenüber anderen, nähern wir uns einem Abgrund. Wie Sigmunt Bauman kurz vor seinem Tod warnte: „Wir werden den Zug derer verstärken, die auf ihr eigenes Grab zusteuern.“ Das darf nicht passieren.
Unser Vertrauen und unsere Hoffnung ermutigen uns, die Vorherrschaft des Geistes (mit seiner natürlichen Spiritualität) gegenüber der Barbarei zu bekräftigen. Er wird sich seiner Abwege und Irrwege bewusst werden. Er wird einen Weg finden können, der uns auf diesem schönen Planeten erhalten bleibt. Und uns eine Zukunft garantieren, in der Arroganz nicht mehr so häufig vorkommt, sondern die Sorge um unser gemeinsames Zuhause und die Liebe unter allen Menschen gedeihen.
Leonardo Boff Autor von: Die Suche nach dem rechten Maß: Wie der Planet Erde wieder ins Gleichgewicht kommt, LIT Verlag 2023.
(Deutsche Übersetzung: Bettina Gold-Hartnack)