Leonardo Boff
Verfolgt man den gegenwärtigen Lauf der Welt, sowohl auf internationaler als auch auf nationaler Ebene, so sieht man einen regelrechten Tsunami von Hass, Lügen, Ausgrenzung, regelrechtem Völkermord und Massenvernichtung, wie im Gazastreifen, der uns ratlos macht. Wie weit kann das menschliche Böse gehen? Es gibt keine Grenzen für das Böse. Es kann bis zur Selbstauslöschung des Menschen gehen.
Wenn ich an unser Land Brasilien denke, die Todesfälle, die Morde an jungen Schwarzen in den Randbezirken, die Kinder, die Opfer verirrter Kugeln werden, sei es von der Polizei (die tötet) oder von kriminellen Vereinigungen, die täglichen Frauenmorde und die Hunderte von Vergewaltigungen von Mädchen und Frauen, die Zerstückelung von Entführten, lassen eine ganze Stadt wie Rio de Janeiro ständig in Angst und Bedrohung leben. Sie verliert ihren ganzen Glanz. Dies geschieht in fast allen großen Städten unseres Landes, die Sérgio Buarque de Holanda als „herzlich“ bezeichnete (Raízes do Brasil, 1936). Die meisten Interpreten haben jedoch die Fußnote zu dem Begriff „herzlich“ nicht gelesen, in der er bemerkt: „Feindschaft kann ebenso herzlich sein wie Freundschaft, da beide aus dem Herzen geboren werden“ (Nr. 6). Brasilien zeigt also, vor allem unter der Regierung der Unwählbaren,Jair Bolsonaro, die Feindschaft zwischen Freunden und in den Familien, die Banalität des Fluchens, des schlechten Benehmens und der Lüge: alle sind „herzlich“, weil sie aus einem „herzlichen“ (perversen) Herzen geboren werden.
Auf internationaler Ebene ist das Szenario noch abscheulicher. Mit der uneingeschränkten und mitschuldigen Unterstützung der USA und der beschämenden Unterstützung der Europäischen Gemeinschaft, die ihr Erbe der Bürgerrechte, der Demokratie und anderer zivilisatorischer Werte verraten hat, werden von der rechtsextremen Regierung Benjamin Netanjaus wahre Kriegsverbrechen an 40.000 Zivilisten und der unbestreitbare Völkermord an rund 1.300 unschuldigen Kindern im Gazastreifen verübt. Dies ist eine völlig unverhältnismäßige Vergeltungsmaßnahme für ein anderes, nicht weniger schreckliches Verbrechen der Terrorgruppe Hamas. Netanhyau lässt solche Völkermorde zu, weil er kein Herz hat, weil er sich nicht in die Mütter und unschuldigen Opfer hineinversetzen kann. Es ist ihm egal, ob er, um einen Hisbollah-Führer zu töten, Dutzende anderer Menschen bei einem Bombenangriff opfern muss. Ähnliche Verbrechen finden in dem Krieg statt, den Russland gegen die Ukraine führt, mit Tausenden von Opfern, der Zerstörung einer uralten Schwesterkultur und unzähligen unschuldigen Opfern. Bleiben wir hier stehen auf diesem Kreuzweg der Schrecken, der mehr Stationen hat als der des kreuztragenden Gottessohnes.
Es stellt sich die Frage, wie dies am helllichten Tag geschehen kann, ohne dass eine anerkannte Autorität diese Ausrottung von Menschen und ganzen Städten stoppen könnte. Was ist die eigentliche Ursache für diese Ungerechtigkeit? Die Geschichte kennt Ausrottungen in der Vergangenheit, sogar im Namen Gottes, wie im schrecklichen Buch der Richter in der jüdisch-christlichen Bibel und in so vielen Kriegen der Vergangenheit. Israel hat mehr als 207 UN-Beamte getötet, Krankenhäuser, Schulen, Universitäten und Moscheen bombardiert und 80 Prozent des Gazastreifens zerstört. Heute besteht die ernste Gefahr eines totalen Krieges zwischen den militaristischen Mächten, die um die Vorherrschaft in der Welt wetteifern, was das Prinzip unserer Selbstzerstörung verwirklichen würde.
Ich bleibe bei der Interpretation, dass all dies möglich geworden ist, weil wir das Herz, den esprit de finesse (Pascal) und die Dimension der Anima (die Sensibilität von C.G. Jung) verloren haben. Die moderne Kultur ist auf dem Willen zur Macht als Herrschaft aufgebaut, die sich der Vernunft bedient, losgelöst von Herz und Gewissen, übersetzt in Techno-Wissenschaft für unser Wohl und mehr für kriegerische Zwecke. Wie Papst Franziskus in Laudato Sì feststellte: „Die Menschen sind nicht im richtigen Gebrauch der Macht erzogen worden, … weil sie nicht in Bezug auf Verantwortung, Werte und Gewissen begleitet wurden“ (Nr. 105). Die Vernunft hat ihre Willkür in Form des Rationalismus etabliert, indem sie andere Arten, die Wirklichkeit zu erkennen und zu empfinden, erniedrigt hat. Auf diese Weise wurde das Gefühl (Pathos) unter der falschen Annahme unterdrückt, dass es die Objektivität der Analyse behindern würde. Heute ist klar, dass es keine absolute Objektivität gibt. Das Subjekt forscht mit seinen eigenen Voraussetzungen und Interessen, so dass Subjekt und Objekt immer miteinander verwoben sind.
Tatsache ist, dass die Dimension des Herzens und der Wärme verdrängt wurde. Neben dem Reptiliengehirn, das das älteste ist, ist das limbische Gehirn unsere eigentliche Basis. Es entstand bei den Paläo-Säugetieren vor 150-200 Millionen Jahren und bei den höheren Säugetieren vor 40-50 Millionen Jahren, mit denen wir eine Wohngemeinschaft teilen. Wir sind rationale Säugetiere und daher empfindungsfähige Wesen. Das limbische Gehirn ist der Sitz unserer Emotionen, sei es Hass, Wut oder andere Negativität, aber vor allem beherbergt es die Welt der Exzellenz, der Liebe, der Freundschaft, der Empathie, der Werte, der Ethik und der Spiritualität. Das neokortikale Gehirn entstand mit dem Menschen vor 7-8 Millionen Jahren und erreichte seinen Höhepunkt vor etwa 100.000 Jahren mit der Entstehung des Homo sapiens, dessen Erben wir sind. Es ist die Welt der Vernunft, der Konzepte, der Sprache und der logischen Ordnung der Dinge.
Es war also eine späte Ankunft, aber mit seiner Entwicklung begründete es das Reich der Vernunft. Aber man darf nicht vergessen, dass wir es mit einem einzigen Gehirn zu tun haben, das diese drei Dimensionen umfasst, die immer miteinander verbunden sind (in MacLeans Version des dreieinigen Gehirns: reptilisch, limbisch, Neokortex). Die übermäßige Konzentration auf die Rationalität, mit der wir die Welt, die Frauen (Patriarchat) und die Natur auf Kosten der Gefühle beherrscht haben, hat zu sozio-historischen Missverständnissen und Fehler geführt, deren schädliche Folgen wir jetzt ernten. Es ist dringend notwendig, das neokortikale Gehirn (Vernunft/Logos) mit dem limbischen Gehirn (Herz/Pathos) zu vereinen, wobei das Herz die rationalen Projekte mit Menschlichkeit und Sensibilität bereichert und umgekehrt in die Vernunft investiert, d.h. der Welt der Gefühle und des Herzens eine Richtung und ein angemessenes Maß gibt. Weil wir das Gefühl der gegenseitigen Zugehörigkeit, dass wir ausnahmslos alle Menschen sind, ertränkt haben, sind wir zu grausamen Völkermördern (gegenüber unserer Spezies) und Umweltmördern (gegenüber der Natur) geworden. Wir haben unsere Brüder und Schwestern versklavt, unterjocht und diskriminiert.
Der westliche, liberal-kapitalistische Humanismus ist bankrott, weil wir die Dimension des Herzens, des Geistes der Finesse (Pascal), der essentiellen Sensibilität (anima) nicht gerettet haben. Die so genannte „regelbasierte Ordnung“ (die sich immer nach der Bequemlichkeit der Mächtigen richtet) hat sich als Trugschluss erwiesen.
Wie eine hochrangige UN-Beamtin, Chelsea Ngnoc Minh Nguyen, warnte: „Die Gewalt und Brutalität der letzten Jahre sollte uns alle – ob im Süden oder im Norden, im Osten oder im Westen – dazu veranlassen, eine ehrliche und tiefe Selbstprüfung über die Art von Welt vorzunehmen, in der wir leben wollen“ (IHU 4/10/24). Ich sehe keine andere Alternative, als das Paradigma der Zivilisation (vom dominus zum frater) zu ändern, als einen neuen Humanismus zu gründen, der in unserer eigenen Natur wurzelt. In ihm finden wir die anthropologischen Konstanten, die unserem Menschsein innewohnen: bedingungslose Liebe, essentielle Fürsorge, Kooperation, Empathie, Mitgefühl, Anerkennung des Anderen als Mitmensch, Respekt vor der Natur und der Erde, die uns alles gibt, Verzauberung durch das Schöne und Gute und Ehrfurcht vor dem Mysterium. Diese Werte wären die Grundlage einer anderen möglichen und notwendigen Welt. Andernfalls steuern wir auf das Unvorstellbare zu.
Leonardo Boff Ökotheologe, Philosoph und Schritsteller
Übersetzung von Bettina Goldharnack